Wer denken kann, der denke

Fragment eines Manifests
von Björn Buxbaum-Conradi und Fabian Butzbach
Frankfurt am Main – Januar 2011
[Download des Textes als PDF hier]

Die aufgeklärte westliche Wissenskultur ist ein hohes Gut. Insgesamt profitieren wir von den Erkenntnissen, die sie hervorgebracht hat, auch wenn stets eine missbräuchliche Nutzung von Wissen möglich ist. Das wissenschaftliche Ideal unter Schutz zu stellen, gehört zum Selbstverständnis unserer Zivilisation. Und doch deuten viele Phänomene unserer Zeit darauf hin, dass unsere Wissenskultur sukzessive unterwandert wird und einer Wiederbelebung bedarf. Wie könnte eine solche Wiedergeburt aussehen? Die Verfasser Björn Buxbaum-Conradi und Fabian Butzbach werden dieser Frage hier nachgehen. Um klar zu sehen, wird eine Bestandsaufnahme ohne Beschönigung notwendig sein. In gemeinsamer Anstrengung soll schließlich ein Gegengewicht geschaffen werden zu Pseudowissenschaft, Esoterik, Populismus, Verschwörungstheorien, religiöser Engstirnigkeit sowie all jenen, die direkt oder indirekt, absichtlich oder aus Nachlässigkeit, wissend oder unwissend, ein Gefüge der Unvernunft mit aufbauen oder nichts dagegen unternehmen.

Einleitung
Denker aller Zeitalter liebten große Worte. Getrieben von der Vorstellung, dass der Mensch ein Vernunftwesen sei, frei in seinem Handeln und ausgestattet mit einer unsterblichen Seele, wurde er zur Krone der Schöpfung, ja zum höchsten Wesen überhaupt erklärt. Nur Gott als Weltenschaffer und oberster Richter war dem Menschengeschlecht übergeordnet.
In einem Jahrtausende währenden Prozess entfachte der menschliche Geist ein Licht, das die Beschaffenheit der eigenen Art bis zur feinsten Zellstruktur durchleuchten sollte: An die Stelle menschlicher Überhöhung trat im Zuge der Entzauberung der Welt durch die exakten Wissenschaften eine für das menschliche Selbstverständnis nur schwer hinnehmbare Erniedrigung. Der Mensch stammte seither nicht von Gott, sondern vom Affen ab; der Geist führte kein immaterielles Eigenleben mehr, sondern stand und fiel mit der Intaktheit des Gehirns. Und von der Liebe zwischen den Geschlechtern blieb nur ein arterhaltender, durch Neurotransmitter generierter Rauschzustand.
Zentrale Begriffe der Philosophie fielen wie Steine zu Boden: Wahrheit ist formal nicht mehr als der Wert einer propositionalen Funktion; Schönheit degradierte zum subjektivistischen Füllwort ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit; Chancengleichheit als Bedingung für Gerechtigkeit wurde in einer Welt, in der die Macht der Gene herrscht, zu einem unmöglichen Versprechen; der Glaubean einen allmächtigen und gleichzeitig gütigen Gott ist nicht erst seit den Gewaltexzessen zweier Weltkriege und dem Holocaust ein Unding, und die seit Urzeiten gepriesene menschliche Freiheit entpuppte sich im Lichte der Neurobiologie als Illusion – oder aber als Fluch, wenn sie doch existieren sollte, denn wer frei ist, ist verantwortlich für sein Tun. Aber – und das ist das Gute daran: All diese Verwerfungen althergebrachter Vorstellungen haben ihre Berechtigung, denn sie beugen einer systematischen Selbsttäuschung vor. In der Vergangenheit mögen positive Illusionen und „Wahnsysteme“ [Thomas Metzinger] vielleicht einen Überlebensvorteil geboten haben. Aber für heutige und kommende Zeiten muss das Gebot ein anderes sein: Es gilt, angesichts der menschlichen Sterblichkeit, aufrichtig zu bleiben; es gilt, sich einzugestehen, dass die Vorstellung an ein paradiesisches Jenseits nicht haltbar ist. Glaube kann erst dort beginnen, wo Wissen aufhört; was im Umkehrschluss bedeutet, dass es unmöglich ist, an Dinge zu glauben, von denen man weiß, dass sie nicht sein können.[1]
Es gilt sich schließlich einzugestehen, dass ein legitimer Raum für Glaubensinhalte nur dort sein kann, wo kein Wissen ist. Aber wovon man nichts weiß, kann man nicht sprechen, und wovon man nicht sprechen kann, darüber sollte man bekanntlich schweigen [s. Wittgenstein].
Intellektuell redlich ist daher nur der, der bereit ist, seine Meinung zu revidieren, wenn empirische Befunde dies gebieten, intellektuell redlich ist nur der, der nicht aufhört zu fragen, wo gefragt werden kann, intellektuell redlich ist nur der, der die Grenzen des Denkens mitdenkt und dadurch dem Ausdruck der Gedanken eine Grenze setzt: Der intellektuell Redliche sagt, was er weiß, und schweigt darüber, was er glaubt.

Menschliche Vernunft
Eines der wichtigsten Konzepte für das menschliche Selbstverständnis ist das der Vernunft. Von nahezu allen großen Denkern des Abendlandes wurde die Vernunft als das höchste Gut des Menschen angesehen. Das Vermögen, vernünftig zu handeln, begründet den Unterschied zwischen Mensch und Tier. Wer vernünftig handelt, handelt im Einklang mit der menschlichen Natur. Heute ist es freilich geboten, den althergebrachten Vernunftbegriff einer naturalistischen Revision zu unterwerfen. Denn was meint vernünftig handeln eigentlich? Lässt sich zu diesem geistigen Vermögen eine reale neurophysiologische Basis finden? Existiert so etwas wie Vernunft im selben Sinne wie das Gehirn? Oder muss der Terminus ein philosophisches Abstraktum bleiben?
Blicken wir noch einmal zurück: In der Kritik der reinen Vernunft kommt Kant zu dem Schluss, dass Sätze gebildet werden können, die die Erkenntnis über die Welt erweitern, aber nicht auf Erfahrung basieren.[2] Zu diesen zählte Kant neben philosophischen und mathematischen Sätzen auch die der Physik, da er annahm, Raum, Zeit und Kausalität seien reine Anschauungsformen, die dem menschlichen Erkenntnissubjekt selbst entspringen. Spätestens die Entwicklung nicht-euklidischer Geometrien hat aber gezeigt, dass solche Sätze eine Mär sind. Es ist irrsinnig, von „der“ Mathematik zu sprechen. Vielmehr lassen sich verschiedene Mathematiken entwerfen, je nachdem welches axiomatische System gewählt wird.[3] Solche Systeme können sich in der Praxis unterschiedlich gut bewährt haben, aber tatsächlich enthalten sie kein genuines Wissen über die Beschaffenheit der Welt.[4] Hinzu kommt, dass der absolute Raum- und Zeitbegriff Newtons, auf den Kant zurückgreift, seit der empirischen Bestätigung der Einsteinschen Theorien ausgedient hat. Ähnlich verhält es sich mit dem klassischen Kausalitätsbegriff, dem mit der Planck-Zeit eine unüberwindbare Grenze auferlegt wurde.[5] Zudem kann es auch oberhalb der Planck-Zeit non-deterministisch zugehen [siehe Quantenphysik].
Stellt man nun die von Kant als unbeantwortbar zurückgewiesene Frage, wie die reinen Anschauungsformen entstanden sind, im Lichte heutiger Erkenntnisse ein weiteres Mal, so muss die Antwort lauten: aus der Evolution. Im Laufe des phylogenetischen Anpassungsprozesses an die Form des mesoskopischen Raumes[6] haben sich im menschlichen Gehirn fest verankerte Strukturen herausgebildet, die unsere kognitiven Fähigkeiten und unsere Wahrnehmung der Welt bestimmen.
Aus diesen Gründen dient in der Kognitionspsychologie schon seit geraumer Zeit der empirisch gehaltvollere Begriff der adaptiven Verhaltenskontrolle[7] als Ersatz für den Vernunftbegriff. Verortet ist das Vermögen zur adaptiven Verhaltenskontrolle vornehmlich im präfrontalen Kortex. Dieser Hirnregion verdankt der Mensch die Fähigkeit zu Impuls- und Triebunterdrückung, zu Belohnungs- und Bedürfnisaufschub, zu geplantem Handeln, Extrapolation, Antizipation und reflexivem Denken.[8] Als adaptiv wird dieses Vermögen bezeichnet, weil es die bestmögliche Anpassung des Menschen an seine naturräumliche, kulturelle und soziale Umgebung zum Ziel hat. Die aus diesem Vermögen resultierende besondere Flexibilität des Menschen ist in der Evolutionsgeschichte einzigartig: Kein Lebewesen kann so schnell auf sich verändernde Umweltbedingungen reagieren wie der Mensch.
In der Interaktion zwischen Gehirn und Umwelt findet sich der Ursprung allen gehaltvollen Wissens. Natürlich besitzen auch Tiere, insbesondere Primaten, erfahrungsbasiertes Wissen, das z. B. eingesetzt wird, um die Nahrungssuche zu optimieren. Aber nur beim Menschen kommt es zu einer ganzheitlichen Projektion aller wahrgenommenen Umweltsignale und einer gleichzeitigen Integration von Gedächtnisinhalten, emotionalen Bewertungen und allgemeinem Vorwissen. Zudem fungiert das menschliche Gehirn als „Beziehungsorgan“, das soziale Interaktionen vermittelt und gleichzeitig von diesen geprägt wird.[9] Der menschliche präfrontale Kortex als die Hirnregion, die vorausschauendes Planen und vielschichtige Sozialbeziehungen ermöglicht, stellt sich somit als mächtiges Werkzeug im evolutionären Kampf ums Dasein dar. Zwar hat sich der Mensch durch seine Fähigkeit zu höherer Sprache und abstraktem Denken, das seinen höchsten Ausdruck in den Formalismen der Mathematik findet, in gewisser Weise vom Tierreich entkoppelt, aber selbstverständlich ist der Evolutionsprozess an diesem Punkt nicht stehen geblieben. Er ist durch den Einschub einer weiteren Ebene, nämlich der kulturellen, lediglich komplexer geworden.

Status Quo
Weitsichtiges, planendes Handeln – es macht uns anpassungs- und damit überlebensfähig. Im Umkehrschluss bedeutet es, dass ein Mangel an Vorausschau und Planung den Niedergang ganzer Zivilisationen herbeiführen kann. Wie viele Hochkulturen vor uns sind schon an sich selbst gescheitert? Wir können uns eine Abwertung der Wissenskultur, die über Jahrhunderte gewachsen ist und uns ein komfortables Leben führen lässt, nicht leisten. Gesellschaften in denen eine breite Masse, aber auch viele Entscheidungsträger, das wissenschaftliche Ideal nicht teilen, werden früher oder später in Abhängigkeit derer geraten, die über Wissen verfügen, es pflegen und mehren. Wissen ist Macht. Und die Kluft zwischen Arm und Reich ist nicht zuletzt auf ein Wissens- und Innovationsgefälle zurückzuführen.

Wie steht es heute um unsere, die westliche Kultur? Leben wir noch in einem Zeitalter der Aufklärung oder gerät der Anspruch der Vordenker immer weiter in Verruf und Vergessenheit? Wie viel Unvernunft verträgt eine Gesellschaft?
Leider lassen viele Kulturphänomene und Irrlehren unserer Zeit darauf schließen, dass etwas faul ist in den einstigen Mutterländern der Aufklärung: Statt der modernen Medizin zu vertrauen, lassen sich viele Menschen von esoterischer Pseudowissenschaft verführen. Statt sich aktiv zu bilden, begeben sich viele Bürger lieber in die Obhut ihres Fernsehers. Statt das Wohl des Gemeinwesens im Blick zu haben, schauen Politiker nur zu gerne auf Umfragewerte. Sie agieren nicht weitsichtig, sondern populistisch. Statt sich auf Erfahrungsinhalte zu konzentrieren und diese logisch zu prüfen, entwickeln zahllose Sozialwissenschaftler immer weitere Theorien, die einer empirischen Grundlage entbehren.[10]
Einige Ursachen dieser Phänomene lassen sich leicht benennen: Menschen sind bequem und Nachdenken ist mühsam. Menschen sind oft selbstsüchtig und persönlicher Erfolg wird über Gemeininteressen gestellt. Viele Intellektuelle haben zwar viel gelesen, aber nicht erkannt, dass Wissen nicht allein aus Büchern, sondern vielmehr aus der Synthese von genauer Beobachtung und logischer Strenge zu gewinnen ist. Zudem bedeutet ergebnisoffenes Forschen, dass man sich auch unbequemen Wahrheiten stellen muss. Gerade in der Intelligenzdebatte [nature vs. nurture] stößt man auf sozialwissenschaftlicher Seite immer wieder auf Behauptungen, die mit den Ergebnissen biologischer Forschung nicht übereinstimmen. Man möchte die idealisierten Vorstellungen, die man von der Welt hat, eben nicht aufgeben. Aufklärung kann schmerzhaft sein, aber diesen Schmerz gilt es auszuhalten.
Die größte Herausforderung, der sich die Autoren stellen müssen, liegt in ihrem Anliegen selbst begründet. Denn zahllosen Menschen fehlt der nötige Halt im Leben gerade als Folge der Aufklärung, hat diese ihnen doch die Religion genommen. Viele suchen ihr Heil seither in halbreligiösen Ersatzlehren wie z. B. der Anthroposophie oder der Homöopathie. Verschwörungstheorien haben ebenfalls Hochkonjunktur.[11]
Wie kann Aufklärung also funktionieren, ohne dass gleichzeitig jede Form von Spiritualität illegitim erscheint?

Literatur

    • Braus, Dieter F.: Einblicke ins Gehirn, Stuttgart 2010
    • Jungclaussen, Hardwin: Neuronale Vernunft. 2003
    • Metzinger, Thomas: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit, Vortrag auf dem Kongress „Meditation und Wissenschaft“, Berlin 2010
    • Trivers, Robert: Deceit and Self-Deception, London 2011
    • Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main 2003

Anmerkungen
zurück nach oben

[1] Problematisch ist, dass denen, die wenig wissen, meist auch das nötige Meta-Wissen fehlt.
[2] Kant nennt diese „synthetische Urteile apriori“.
[3] Die englische Sprache wird diesem Sachverhalt gerecht.
[4] Saul Kripke hat zudem gezeigt, dass Apriorität nicht unbedingt Notwendigkeit einschließen muss. Siehe Kripke: Naming and Necessity 1972.
[5] Die Planck-Zeit beschreibt das kleinstmögliche Zeitintervall, für das die bekannten Gesetze der Physik gültig sind.
[6] Der mesoskopische Raum umfasst den mittleren Bereich, der zwischen Mikro- und Makrokosmus liegt.
[7] Im Englischen: adaptive control of behavior.
[8] Die auf assoziativem Denken beruhende Kreativität und das Vermögen zur adaptiven Verhaltenskontrolle sind nicht miteinander korreliert, sie gehen jedoch im Idealfall ein Zusammenspiel ein.
[9] Weiterführend hierzu: „Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan“ [ein umfassendes Forschungsprojekt an der Universität Heidelberg].
[10] Die „Gender Studies“ wären hier als erstes zu nennen.
[11] „Chemtrails“ scheinen momentan besonders populär zu sein.

Kommentieren / comment

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.