Ich seh Ich seh – die Auflösung / Goodnight Mommy – the denouement

Blog-Artikel in Deutsch [English version below]

[enthält Spoiler]

Der Film „Ich seh Ich seh“ [im Engl. Goodnight Mommy] ist verstörend und rätselhaft, die Handlung verworren und schwer auflösbar. Hat Elias seinen Zwillingsbruder Lukas die ganze Zeit über bloß imaginiert? Ist dieser schon vor einiger Zeit bei einem Unfall ums Leben gekommen? Die letzten Worte der Mutter und die Anfangsszene, in der Lukas beim gemeinsamen Schwimmen mit seinem Bruder verdächtig lange untertaucht, legen das nahe. Aber wie kommt es, dass Elias seine Mutter in der Person, die vorgibt seine Mutter zu sein, nicht mehr wiedererkennt? Lässt er sich von dem Verband täuschen, der lange Zeit ihr Gesicht verdeckt? Ist es ihr immer strenger werdendes und nicht gerade liebevolles Verhalten? Was hat es mit dem Foto auf sich, auf dem zwei identisch aussehende Frauen nebeneinander zu sehen sind, die gleichen Klamotten tragend? Hatte die Mutter eine Zwillingsschwester? Wurde das Muttermal, das sie eindeutig identifiziert hätte, wirklich „gleich mit entfernt“, während sie im Krankenhaus war? Wie kam es eigentlich zur ihrer Gesichtsverletzung? Warum weiß sie nicht, welches Schlaflied Elias am liebsten hört? Andererseits, warum sollte eine geheime Zwillingsschwester die Rolle der Mutter einnehmen und die Jungen fortwährend belügen? Das ergäbe wenig Sinn.
Die Lösung besteht wohl tatsächlich darin, dass die Mutter die echte Mutter ist und Elias ein Trauma durchlebt, in dessen Verlauf ihm der imaginierte Bruder Zweifel an ihrer Identität einflüstert.
Doch ein Detail, das mir erst beim zweiten Sehen ins Auge gefallen ist, möchte ich noch erwähnen …

Bei der Recherche bin ich wiederholt auf die Bemerkung gestoßen, dass das Haus, das in einer der letzten Szenen von der Feuerwehr gelöscht wird, nicht das aus der Haupthandlung sei. Das ist falsch. Es ist lediglich ein anderer Blickwinkel. Wir sehen immer das gleiche Haus. Die unten beigefügten Bilder belegen dies. Und hier habe ich etwas bemerkt. Schauen Sie sich die Lösch-Szene noch einmal genau an. Achten Sie nicht auf das Feuer. Schauen Sie nach links. Sehen Sie die Frau, gekleidet in einem hellen Kleid, die sich langsam ins Bild bewegt? Sie hält inne, starrt einen Moment Richtung Feuer und verschwindet wieder in der Dunkelheit …

In der letzten Szene sieht man, wie sich die Brüder mit der Frau vereinigen. Sie läuft ihnen aus der Dunkelheit kommend im hellen Kleid entgegen. Es ist die geliebte Mutter. Gemeinsam singen sie „Sag mir wieviel Sternlein stehen“, das Schlaflied, das Lukas so mag. Ich seh, ich seh. Zumindest das imaginierte Ende fällt gut aus.

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English Version

[spoiler alert]

The film Goodnight Mommy [German title „Ich seh Ich seh“] is disturbing and mysterious, the plot confusing and difficult to resolve. Has Elias only imagined his twin brother Luke throughout the movie? Did he die in an accident some time ago? The last words of the mother and the initial scene, in which Luke is swimming with his brother and suspiciously long submerges, support this assumption. But how does it happen that Elias no longer recognizes his mother in the person who claims to be his mother? Is he fooled by the bandage that conceals her face for a long time? Is it her almost draconic and unloving behavior? What about the photo that shows two identical-looking women side by side wearing the same clothes? Does the mother have a twin sister? Was the birthmark, that would have identified her, really removed while she was in hospital? What caused her facial injury anyway? Why can’t she recall, which is the favorite lullaby of Elias? On the other hand, why should a secret twin sister slip into the role of the mother, lying constantly to the boys? That wouldn’t make much sense.
I think the assumption that the mother is actually the real mother is correct. Knowing the end we must conclude that Elias is going through a psychotrauma, in which the imaginary brother whispers doubts about her identity to him.
But there is still one detail that needs to be mentioned. It only caught my eye when I saw the movie for a second time …

While searching online I repeatedly encountered the comment that the house, which is extinguished in one of the last scenes by firemen, is not the one of the main plot. This is wrong. It’s just a different point of view. We always see the same house. The screenshots below prove this. And at this point I noticed something. Watch the extinguishing scene again. Do not pay attention to the fire. Look to the left. Do you see the woman in a bright dress moving slowly into the scene? She stops, stares a moment towards the fire and disappears in the darkness again …

In the final scene we see the two brothers and the woman reuniting. She is approaching them out of the the dark wearing the bright dress. It is their beloved mother. Together they sing the favorite lullaby of Lukas. I see, I see. At least the imagined end is a happy end.

Bilder / Images

Einzelbilder / frames
Einzelbilder aus dem Film „Ich seh Ich seh“ / film frames from the movie „Goodnight Mommy“. Click for full size / Klicken für Vollbild / image credit: Koch Media

In eigener Sache: Abstract und Inhaltsangabe meiner Studie zu Robert Musil von 2008

Der Titel der Arbeit lautet „Genauigkeit und Seele“: Der Versuch einer Synthese von Ratio und Mystik in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Sie kann in gedruckter Form u.a. über Amazon bezogen werden. Eine digitale Kopie stelle ich hier zur Verfügung.

In der Arbeit wird das Verhältnis von Ratio und Mystik in Musils Roman mit analytischen Mitteln behandelt, bei gleichzeitiger, durchaus historisch-kritisch gewendeter Bezugnahme auf maßgebliche Wegbereiter des logisch-empiristischen Paradigmas selbst. In diesem Fall sind das Ernst Mach [1838-1916] und Ludwig Wittgenstein [1889-1951].

Klappentext / Abstract
 
In Robert Musils Gesamtwerk im Allgemeinen und im „Mann ohne Eigenschaften“ im Besonderen wird immer wieder auf die Gegensätzlichkeit von naturwissenschaftlichem Denken und „Gefühlsdenken“, Wissen und Glauben, Ratio und Mystik verwiesen [vgl. Albertsen 1968, S. 11]. Musil stellte die verschiedenen Formen des Erkennens zwar einander gegenüber, doch bestand das Ziel keineswegs darin, die Trennlinie zwischen diesen zu verschärfen. Im Gegenteil: Musil hoffte darauf, die heterogenen Pole menschlicher Welterschließung am Beispiel seines Protagonisten Ulrich unter einer empirisch ausgerichteten Form von ‚Meta-Rationalität‘ subsumieren zu können [vgl. Pieper 2002, S. 67]. Darzulegen, warum der Versuch dieser Synthese scheitern musste, ist ein Hauptanliegen der Arbeit. Das Schicksal Ulrichs, der Zentralfigur des Romans, ist bei dieser vornehmlich erkenntnistheoretischen Untersuchung in keiner Weise auszuklammern. Wie sich zeigen wird, ist dieses mit den philosophischen Ansichten derselben und denen ihres Schöpfers aufs engste verflochten. [Die entsprechende Literaturliste findet sich im Buch ab S. 94.]


Aus dem Inhaltsverzeichnis:

Eine Art Einleitung
Stellung der Aufgabe
Forschungsstand

1. Essayistische Eingangsbetrachtungen
1.1. Der „Mystiker mit dem Bedürfnis nach rationaler Überprüfung
1.2. Die Erkenntnis des Dichters

2. Der „rationale Mensch“
2.1. Die Etymologie des Verstandesdenkens
2.2. Rationalisierung und Spezialisierung: Die „Entzauberung der Welt“

2.3. Die „Westliche Wissenschaftliche Tradition“
2.4. Die Grenzen des Sagbaren

3. Das Mystische
3.1. Etymologie und Begriffsbestimmung
3.2. Die mystische Komponente des Begriffes „ohne Eigenschaften“
3.3. Der Mystikbegriff Wittgensteins

4. Musil und die exakten Wissenschaften
4.1. Drei Versuche, ein „bedeutender Mann“ zu werden
4.2. Musils Schwanken zwischen der dualistischen Gestaltpsychologie Stumpfs und Machs monistischer Empfindungslehre
4.3. Musils Dissertation über die Erkenntnislehre Machs und die Beantwortung einer „Lebensfrage“

5. Gründzüge der Philosophie Ernst Machs
5.1. Die Denkökonomie oder das ‚Machsche Rasiermesser‘
5.2. Die evolutionäre Erkenntnistheorie
5.3. [IIIII.III.] Die Elemententheorie
5.4. Machs Sprachkritik
5.5. Körper und Substanz
5.6. Das Machsche Prinzip: Funktionalität statt Naturnotwendigkeit, Relativität statt Absolutheit
5.7. Die ‚Unrettbarkeit des Ichs‘
5.8. Eine solipsistische Welt ohne Selbst?

6. Rezeption der Machschen- und Ausbildung einer ‚Musilschen Erkenntnislehre‘ im „Mann ohne Eigenschaften“
6.1. Vorbemerkungen
6.2. Die Rückbindung der Wissenschaft an das Leben
6.3. Naturnotwendigkeit oder unendlicher Möglichkeitsraum?
6.3.1. Kausalität und erzählerische Ordnung
6.3.2. „Es könnte ebensogut anders sein“: Ulrichs „Möglichkeitssinn“
6.3.3. Die Auseinandersetzung mit dem Kausalitätsprinzip im „Mann ohne Eigenschaften“
6.4. Die Funktionale Betrachtungsweise
6.4.1. Das „Kraftfeld“ von Gut und Böse, Liebe und Hass
6.4.2. Die Anpassung der moralischen Vorstellungen an die „Beweglichkeit der Tatsachen“ oder Musils ‚Mathematik der Moral‘
6.5. Der Subjektbegriff in einer „Welt von Eigenschaften ohne Mann“
6.5.1. Die Machsche Elemententheorie und die freie Verteilung von Eigenschaften
6.5.2. Kulturelle Aspekte der ‚Eigenschaftslosigkeit‘
6.6. Die „Utopie des exakten Lebens“ oder „schweigen, wo man nichts zu sagen hat“
6.7. Auf dem Weg in den „anderen Zustand“

7. Endbetrachtung

Literatur